Wir kaufen Sonderangebote, obwohl wir die Produkte eigentlich gar nicht brauchen. Wir lassen uns leicht von Onlinehändlern manipulieren. Allgemein denken wir in Geldangelegenheiten oftmals viel zu kurzfristig. Wie können wir unseren Umgang mit Geld und damit unser «Financial Wellbeing» nachhaltig verbessern? Verhaltenswissenschaftler Thomas Mathar hat einige Tipps.

Sie haben kürzlich ein Buch zum Thema «Financial Wellbeing» veröffentlicht. Was ist darunter zu verstehen?
Financial Wellbeing – oder auf Deutsch «finanzielles Wohlbefinden» – bedeutet, dass der gewünschte Lebensstandard einer Person zu ihren finanziellen Möglichkeiten passt. Es geht darum, die eigene Finanzplanung so zu gestalten, dass sie sowohl heute als auch in Zukunft Wohlbefinden ermöglicht. Oder kurz: Es geht um die Erlangung von finanzieller Selbstbestimmung unter der Annahme, dass wir heute gut 100 Jahre alt werden können.

Braucht es hierfür mehr als klassisches Finanzwissen, also Grundkenntnisse zu Themen wie Budgetierung, Zinsen, Inflation oder Risikoverteilung?
Natürlich ist Finanzwissen wichtig. Aber das Problem ist: Viele Menschen kennen zwar die Grundsätze, wissen aber nicht, wie sie diese umsetzen sollen. Laut einer neueren Umfrage wissen rund 90 Prozent der Menschen in Deutschland um die Wichtigkeit von finanziellen Rücklagen und die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Umgangs mit Schulden. Fast ebenso viele wissen auch, dass sie fürs Alter privat vorsorgen sollten. Trotzdem nimmt der «irrationale Konsum» zu, während fast ein Drittel unerwartete Ausgaben nicht stemmen kann und nur eine Minderheit für die Zukunft spart. Ähnlich ist die Situation in der Schweiz und in Frankreich, wo sich immer mehr Menschen verschulden und wider besseres Wissen nur etwas mehr als die Hälfte (Schweiz: 56 Prozent / Frankreich: 51 Prozent) fürs Alter Geld anspart. Wir brauchen darum eine umfassendere Art der Finanzbildung.

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Ein 100-Jahre-Leben zu navigieren, ist primär eine mentale und erst in zweiter Linie eine finanzielle Herausforderung.

Was braucht es, damit wir einen besseren Umgang mit Geld entwickeln können?
Entscheidend ist die Verbindung von «Money» und «Mindset» – also Geld und Einstellung. Wir brauchen ein besseres Verständnis davon, wie Emotionen, Instinkte und soziale Einflüsse immer wieder verhindern, dass wir gute Finanzentscheidungen treffen. Und wir benötigen Werkzeuge, die uns dabei helfen, dieses Wissen in konkrete Handlungen umzusetzen.

An welche Werkzeuge denken Sie?
Ein 100-Jahre-Leben zu navigieren, ist primär eine mentale und erst in zweiter Linie eine finanzielle Herausforderung. Für die finanzielle Herausforderung gibt es relativ einfache Faustregeln. Zum Beispiel die 50:30:20-Regel: 50 Prozent des Nettoeinkommens können für den notwendigen Lebensunterhalt verwendet werden, 30 Prozent für Dinge, die das Leben schöner machen – etwa für Hobbys, Ferien oder Weihnachtsgeschenke. Und 20 Prozent sollten wir in unsere Zukunft, in den Schuldenabbau, Sparpläne oder die Altersvorsorge investieren.

Welche mentalen Herausforderungen gilt es zu meistern?
Zentral ist das Bewusstsein über unser Kaufverhalten. Ein Klassiker sind Impulskäufe. Laut einer Studie der EU-Kommission nutzen 97 Prozent der Onlinehändler verhaltenswissenschaftlich basierte manipulative Techniken wie Spiele, Glücksräder oder Rabatt-Countdowns. Sie suggerieren unglaubliche Schnäppchen und regen uns zum schnellen Kauf an. Wichtig ist, dass wir diese Mechanismen verstehen lernen und unsere Kaufentscheidungen dadurch überdenken können.

Wie lassen sich Impulskäufe verhindern?
Indem man zum Beispiel die Kreditkarte zu Hause lässt und beim Onlineshopping die Kartendetails aus dem Browser löscht. Oder indem man sich vor dem Kauf sagt: «Ich spazier jetzt noch einmal um den Block und überlege mir, ob ich das wirklich brauche.» Im Wesentlichen geht es darum, Tempo rauszunehmen. Durch die erwähnten Tricks werden unsere Instinkte angesprochen und wir sollen dazu verleitet werden, ohne lange nachzudenken und möglichst schnell ein Produkt zu kaufen.

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Wenn wir über unser künftiges Ich in 20 oder 30 Jahren nachdenken, dann ist das für unser Gehirn so, wie wenn wir Informationen über eine fremde Person verarbeiten würden.

Wie stark beeinflusst der soziale Vergleich unser Finanzverhalten?
Enorm. Und in Form von Sozialneid führt der Vergleich mit anderen dazu, dass wir Geld für Dinge ausgeben, die wir eigentlich gar nicht brauchen oder uns nicht leisten können. Eine US-Studie hat gezeigt, dass die Nachbarn von Lottogewinnern häufiger Bankrott gehen. Und je höher der Lottogewinn, desto mehr Privatinsolvenzen gibt es in der Nachbarschaft. Wir achten in Finanzangelegenheiten viel zu sehr auf externe Referenzpunkte.

Vergleichen kann doch aber auch motivierend sein?
Ja, aber wir sollten bewusster vergleichen. Zum Beispiel indem wir uns fragen, worum genau wir die reichen Nachbarn beneiden – und worum nicht. Bewusster vergleichen bedeutet auch, sich mit Menschen in ähnlichen Lebensumständen zu vergleichen, deren Lebensstil man bewundert. Wenn man vor einer Finanzentscheidung steht, könnte man sich fragen: Wie würde diese Person nun entscheiden?

Vielen fällt das Sparen fürs Alter besonders schwer. Woran liegt das?
Zum einen ist der Mensch anthropologisch betrachtet darauf konditioniert, kurzfristig zu denken und zu überleben. Jahrtausende lang waren wir Jäger und Sammler und mit der Befriedigung von existenziellen Bedürfnissen ausgelastet. Das Konzept von Geld gibt es erst seit rund 4000 Jahren und den Ruhestand sogar erst seit 150 Jahren. Kein Wunder also, dass es uns emotional und kognitiv schwerfällt, in Finanzfragen langfristig zu denken. Auch neurologisch gesehen widerstrebt uns das langfristige Denken, da wir den intuitiven, emotionalen und schnelleren Bereich unseres Gehirns viel öfter aktivieren als den rationalen, logischen, vorausschauenden Bereich. Erschwerend kommt hinzu, dass wir von Natur aus keine starke Verbindung zu unserem zukünftigen Selbst haben.

Wie meinen Sie das?
Der Verhaltensökonom Hal Hershfield hat herausgefunden: Wenn wir über unser künftiges Ich in 20 oder 30 Jahren nachdenken, dann ist das für unser Gehirn so, wie wenn wir Informationen über eine fremde Person verarbeiten würden. Wollen wir also die Menschen zum Sparen fürs Alter anregen, dann ist das fast so, als ob wir ihnen sagen würden: «Gib dein Geld einem Fremden.» Kosten und Nutzen in der Gegenwart wiegen für uns Menschen immer mehr als Kosten und Nutzen in der längerfristigen Zukunft.

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Beim ‹Financial Wellbeing› geht es um die Erlangung der finanziellen Selbstbestimmung im 100-Jahre-Leben.

Ist langfristiges Denken denn erlernbar?
Ja. Wir können das vorausschauende Hirn trainieren, ähnlich wie das die Spitzensportler mittels Mentaltraining tun. Als der Tennisspieler André Agassi nach seinem ersten Wimbledon-Sieg gefragt wurde, wie sich der Sieg anfühlt, sagte er: «Ich habe Wimbledon schon 10 000 Mal im Kopf gewonnen!» Eine Technik, die ich mit der Universität Edinburgh entwickelt habe, heisst «vorausschauender Rückblick» («Prospective Hindsight»). Dabei versetzt man sich in eine ideale Version seiner Zukunft und überlegt: Wie möchte ich mit 40, 50 oder mit 65 leben? Indem man sich vorstellt, bereits in der Zukunft zu sein und auf gegenwärtige Entscheidungen zurückzublicken, kann man mögliche Konsequenzen besser antizipieren und so fundiertere Entscheidungen in der Gegenwart treffen. Dieser Denkansatz hilft einem auch dabei, Klarheit über diejenigen Dinge zu gewinnen, die einem Lebenssinn und Lebensfreude geben.

Wie viel Geld braucht der Mensch, um glücklich zu sein?
Wahrscheinlich weniger, als wir denken. In der Regel bedeutet mehr Geld nicht mehr Lebensglück. In Deutschland und Frankreich liegt die finanzielle Schwelle für ein allgemeines Wohlbefinden bei einem jährlichen Nettoeinkommen von rund 35 000 Euro für einen Einpersonenhaushalt, in der Schweiz bei 50 000 Franken. Das sind Durchschnittswerte für das ganze Land, in den urbanen Regionen ist es etwas mehr, in den ländlichen Gebieten etwas weniger.

Und welche Ausgaben machen Menschen glücklicher?
Untersuchungen zeigen, dass sich Investitionen in Erlebnisse wie Konzerte, Theaterbesuche oder Reisen mehr lohnen als Investitionen in Gegenstände. Nachhaltig glücklicher wird man erwiesenermassen auch, wenn man andere unterstützt, zum Beispiel mittels Spenden oder Freiwilligenarbeit. Und glücklich macht uns auch alles, was uns Zeit «kauft» anstatt Zeit «frisst». Unter Umständen ist es also klüger, in einen Rasenmäherroboter zu investieren als in einen Swimmingpool, den man nur wenige Wochen pro Jahr nutzen kann, aber dauernd reinigen muss.

Was fällt Ihnen persönlich am schwersten auf dem Weg zum finanziellen Wohlergehen?
Die grosse Herausforderung im 100-Jahre-Leben besteht darin, sowohl im Hier und Jetzt als auch für die Zukunft zu leben. Das bereitet mir zum Teil Mühe. Mein Tipp: Berücksichtige in deinen Finanzplänen auch kurzfristige Ziele, die du in den nächsten 18 Monaten realisieren möchtest. Ich habe zum Beispiel einige Städtetrips eingeplant, um endlich meine besten Freunde zu besuchen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Denn auch für das finanzielle Wohlbefinden gilt der schöne Satz des Verhaltensforschers Paul Dolan: «Jetzt verlorenes Glück ist für immer verlorenes Glück» (engl. «Happiness lost now is happiness lost forever»).

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Thomas Mathar

Thomas Mathar ist Verhaltenswissenschaftler und Leiter des Zentrums für Verhaltensforschung beim Finanzdienstleister Aegon UK. Er untersucht in Studien die Instinkte, Motivationen, Fähigkeiten und Umweltfaktoren, die Menschen dazu bringen – oder davon abhalten –, langfristig bessere Lebens- und Finanzentscheidungen zu treffen. 2023 erschien sein Buch «Financial Wellbeing. Die 10 Money- und Mindset-Bausteine für ein krisenfestes, glückliches und erfolgreiches Leben». Im Oktober 2024 erscheint sein zweites Buch «Der Weg zu Glück und Wohlstand im 100-Jahre-Leben» (beide Gabal Verlag).

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